Kreidebleich

Um 23.30 Uhr blickte der Vollmond durch die Wolken. Schlagartig erhellte sich die Wiese vor mir. Ein schwarzer Körper kam von rechts. Zack, Fernglas vor die Augen, junger Keiler, Waffe in den Anschlag, Blick durchs Zielfernrohr, Tier im Fadenkreuz, zeigt mir seinen Hintern, weg ist er im Mais links meiner Kanzel. Adrenalin pur, vielleicht kommt er zurück, Waffe bereit, langsame Entspannung.

Mondlicht wird schwächer, gegen 24.30 kaum Büchsenlicht. Hoffnung, dass der Mond sich wieder zeigen würde. Flo schlief neben mir, hatte kurz den Kopf gehoben, als der Keiler auftauchte, war vorbildlich leise.

Ich dachte daran, wie Hans-Heinrich die Leiter mit etwa 10 Sprossen mehrmals hinauf- und hinuntergestiegen war, um mir zu helfen: Er brachte zuerst Flöchen zu mir, dann die Waffe und meinen Rucksack nebst einer Decke. Ich stellte mir die Frage, warum Hans-Heinrich so liebevoll mit uns umging, denn er versorgte Einstein genauso wie mich. Ich nahm mir vor, ihm diese Frage zu stellen.

Gegen 3.30 Uhr die WhatsApp, dass Hans-Heinrich abgebaumt sei. Ich antwortete ihm, dass ich Einstein benachrichtigen und ihn von seinem Hochstand abholen würde.

„Mein Mund ist total trocken, kann kaum sprechen, habe immer noch weiche Knie“, flüsterte Einstein ins Handy. „Was ist los“, fragte ich erschrocken. „Komm, du wirst es nicht glauben, ich zeige es dir!“

„Soll ich dir noch helfen wegen deines Hundes?“ schrieb mir Hans-Heinrich zeitgleich. „Nein Danke, das ist lieb von dir, ich schaffe das, du hast ja ein Geländer an der Leiter!“

Ziemlich eilig schaffte ich es, samt Hund vom Hochstand herunterzukommen, zum Auto zu gehen, zum Hochstand  zurück zu fahren, um die anderen Utensilien einzupacken. Bei Einstein angekommen, empfing er mich direkt neben der fahrbaren Kanzel.

„Mach das Licht aus, Motor aus, siehst du da den Waldrand und das Maisfeld?“, krächzte seine Stimme.

„Was ist los?“

Einstein stand völlig aufgelöst neben mir. „Mir rast das Herz immer noch, bis oben in den Hals. Meine Knie sind total wackelig. Gut, dass du kommst! Sowas habe ich noch nie erlebt.“

Was war passiert?

Gegen 21.30 Uhr traten bei ungünstigem Büchsenlicht vier Stück Rehwild aus dem Wald. Auf einmal schreckten sie. Ein riesiger schwarzer Wildkörper zwang Einstein, sofort per Fernglas festzustellen, ob das ein schwarzer Rehbock oder tatsächlich ein Wildschwein wäre. Diese 15 Sekunden nutzte die Sau, um vom Waldrand ins Maisfeld zu wechseln. Einstein hörte über eine halbe Stunde, wie das Schwein Maisstangen brach und fraß. Er hörte es schmatzen. Er machte sich schussbereit. Es kann eigentlich nur ein Keiler sein, mutmaßte er, auf jeden Fall keine führende Bache.

Der Adrenalinspiegel stieg zusehends. Plötzlich hörte er, wie der Keiler um seine niedrige Kanzel preschte, tief grunzend, bösartig, die Luft einsog und wieder hinausschnaufte, so, als ob er einen Nebenbuhler vertreiben wolle. An jeder Ecke nahm er Witterung auf, nur nicht direkt vor dem Fenster. Ein Schuss war nicht möglich.

Wilde Gedanken durchfuhren ihn: Was ist, wenn er die Hütte umreißt?

„Ich bekam tatsächlich richtige  Angst, Silberlocke, das ist kein Jägerlatein! So etwas habe ich noch nie erlebt. Und dann habe ich gedacht, weil ich auf einmal nichts mehr hörte, liegt der da unten etwa und wartet auf mich? Ich habe überlegt, ob ich die Waffe schussbereit lasse, wenn ich die drei Stufen hinunter steige. Ich habe sie entladen, aber wohl war mir nicht dabei!“

Ich sah Einstein an und begriff in diesem Augenblick, dass er tatsächlich an seine Grenzen gelangt war: Er und ich sind nicht mehr die Jüngsten, ziemlich unsicher auf den Beinen. Wir sind in unserem Jägerleben nie ähnlichen Szenen ausgesetzt gewesen, die ein Jagdfreund neulich erlebt hatte, als er ein im Wundbett liegendes Wildschwein mit dem Messer abfangen, also töten musste, weil er wegen der Hunde nicht schießen konnte.

„Wenn ich dieses Erlebnis Hans-Heinrich erzähle, wird er das als Jägerlatein abtun oder sich amüsieren“, äußerte sich Einstein nachdenklich.

Hans-Heinrich hörte sich die Geschichte an und reagierte: „Das kennen wir, haben wir alle ähnlich erlebt. Das war ein alter, kluger Keiler, der sich nach allen Seiten absichern wollte. Ich kann deine Angst durchaus verstehen. Aber er würde es nicht schaffen, die Hütte flach zu legen!“

Irgendwie ergab sich die Gelegenheit, unserem Gastgeber die Frage zu stellen, warum er sich so um uns bemühen würde, wir seien schließlich „Fremde“, wären allerdings sehr überrascht und zugleich erfreut.

„Das mache ich immer. Ich kann auch anders, wenn ich mich verarscht fühle“, antwortete Hans-Heinrich tiefsinnig.

Von nun an dürfen wir Hans-Heinrich mit seinem Spitznamen ansprechen: „Schachti.“

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