Waldeslust

Auf der Rückfahrt von Knesebeck nach Gifhorn. Nebenstrecke. An fast jedem Waldweg, der rechts oder links von der Straße abzweigte, Wohnwagen oder Wohnmobile, mit einer roten Laterne oder blauer Leuchtröhre.

Auf der Hinfahrt hatten wir sie bereits bemerkt. Wir kennen nahezu alle Regionen der Bundesrepublik, war unsere einhellige Meinung, aber eine so geballte Ladung an rollenden Puffs hatten wir noch nicht gesehen. Ich dachte an die Frauen und hoffte, dass sie diese Dienstleistungen aus freien Stücken anböten und nicht von Zuhältern gezwungen würden, wahrscheinlich ein naiver Wunsch!

Einstein sinnierte: „Warum sind so viele fahrbare Liebesnester hier? Hat das mit dem VW-Werk zu tun oder liegt das an der Tatsache, Gelegenheit macht Liebe?“

Plötzlich links ein Wohnwagen. Vor ihm am Eingang hantierte eine Mamsell, dick, fast rund, mittelgroß, mit einem pinkfarbenen,  ihren Körper zusammenpressenden Ganzkörperbikini.

Ich prustete los, blitzartig erkennend, dass Geschmäcker unterschiedlich sind und man sich hüten sollte vor diskriminierenden Äußerungen. Einstein hatte diese Dame ebenfalls registriert, schüttelte sein weises Haupt und sagte voller Mitleid: „Donnerwetter, aber, mutig ist sie wohl, das traut sich nicht jede!“

Als er seinen nächsten Gedanken verbalisierte, glaubte ich, ihn nicht richtig verstanden zu haben, weil seine Worte in Fahrtrichtung an der Windschutzscheibe abprallten.

Einstein erzählt viel und gern, um mich beim Fahren wach zu halten. Da ich schwerhörig trotz Hörhilfe bin, muss er sich mir als Beifahrer um 90 Grad zudrehen, damit ich ihn verstehen kann. Das aber lähmt die Nackenmuskulatur und schmerzt auf Dauer.

„Was hast du gesagt?“

Er drehte sich mir zu und lachte: „Du machst doch von allem Fotos, das nächste Mobil fotografieren wir!“

„Du brauchst die Erlaubnis der Dame, von wegen Datenschutz und so!“

Also sprachen wir bei nächster Gelegenheit zwei Liedesdamen an. Beide blockten ab, es sei nicht ihr Fahrzeug, außerdem: „So’n Foto aus der Nähe sowieso nicht!“

Aus dem Auto heraus während der Fahrt klappte es.

Auf jeden Fall wurde mir schlagartig klar, dass wir uns kein Wohnmobil kaufen könnten! Mit einem Wohnmobil durch Hans-Heinrichs Jagd? Auch ein Campingbus kleineren Formats wäre unangebracht. Was tun, schoss mir durch das Hirn.

 

Vier Kilometer weiter linker Hand eine bessere Frittenbude. Als wir jeder eine Riesen-Currywurst verzehrten, kam mir plötzlich die Idee: „Einstein, was hältst du davon, wenn wir uns einen Geländewagen zulegen? Wir wären ja einmal pro Monat zum Mond hier in der Heide. Hinfahrt, zwei Nächte auf dem Hochstand, und wieder am frühen Nachmittag des dritten Tages nach Hause, das reicht uns alten Männern. Wir suchen uns eine preiswerte Pension inklusive Frühstück, und haben das ganze Theater nicht mit einem Wohnmobil. Was sagst du dazu?“

„Superidee!“

Gesagt, getan: Anruf bei Peter, dem Inhaber eines Gasthauses nahe Knesebeck. Doppelzimmer, Superpreis, ohne Frühstück.

Unser Plan implizierte Anreise am frühen Nachmittag, Treffen mit Hans-Heinrich, Einweisung und Inspizierung der Hochstände, kleines Abendessen im Gasthaus, anschließend Nachtansitz, gegen Morgen ins Zimmer, frühstücken brauchen wir nicht, ausschlafen bis zur Kaffeezeit.  Treffen mit dem Pächter, weiter, wie gehabt. Gebongt!

Überprüfung der Waffen. Noch fahren wir mit unserem Kleinwagen, Gunthild leiht sich für diese drei Tage das Auto von Dieter, unserem Vertrauens-Kfz-Meister, um zur Arbeit fahren zu können.

Mit ambivalenten Gefühlen starten wir das Abenteuer. Natürlich mit Flo, die während der drei Stunden Anfahrt in ihrer Hütte auf dem Rücksitz schläft. Wie wird sie sich auf dem Hochstand verhalten? Werden wir Wildschweine sehen, können wir sofort erkennen, welches Tier gestreckt werden darf, fangen wir an, vor dem Schuss zu zittern, spielt das Wetter mit, haben wir genug Licht oder zu viel, weil Vollmond? Schießen wir daneben, blamieren wir uns? Was wird Unvorhergesehenes passieren?

Die neue Situation ist für uns älteren Herren nicht überschaubar und daher verunsichernd. Und dennoch wollen wir zur Jagd gehen, wollen es wagen. Lust am Töten oder Lust am Abenteuer? Wir müssen nicht schießen, erklären wir unisono, aber auf dem Hochstand zu sitzen, die Macht der Natur zu genießen, die Düfte zu inhalieren, wie, wenn wir an frischgemähten Wiesen vorbeifahren, das Treiben unterschiedlicher Tiere zu beobachten und tatsächlich unserer Gene folgend, auch Sauen schießen zu dürfen, erfüllt uns mit einer sehnsüchtigen Waldeslust!

Die erste Nacht, jeder auf einem anderen Hochstand. Fahrbare Kanzeln, nur drei Stufen hoch. Es kühlt stark ab. Sieben Grad fordern dicke Jacken. Bei Einstein steigt der Nebel aus der Wiese. Eigentlich schön anzusehen, verhindert aber die Sicht auf austretendes Wild.

Die Knie werden kalt, Flo fängt an zu zittern. Eine Decke über ihren Körper hilft wenig. Unter meiner weiten Ansitzjacke, dicht an meinen Bauch gepresst, wird ihr warm. Wenn es ab Oktober, November kälter wird, werde ich sie in meinen Ansitzsack versenken, plane ich in der Hoffnung, dass wir uns gegenseitig wärmen können.  Ich bin erstaunt, wie ruhig sich mein kleines Schnoodle-Hündchen verhält.

Gegen vier Uhr baumen wir ab und sind gespannt, was wir in der nächsten Nacht erleben werden.

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