Glücksgefühle an Wermutstropfen

„Denk‘ daran, erinnere Einstein an das Rockkonzert übermorgen“, flüsterte meine Frau durchs Handy, kurz bevor ich auf ‚Lautlos‘ schaltete, weil ich auf der ‚Schiefen Kanzel‘ saß und auf einen Bock wartete, den Schachti angekündigt hatte.

Ich blickte über den gerade geeggten grauen Ackerboden, der in geringer Tiefe Wurzeln der gehäckselten Maispflanzen für gierige Sauen bereithielt, für naschfreudiges, gourmetverwöhntes Rehwild aber uninteressant sein würde, wie ich verunsichert dachte. Denn Schwarzwild würde erst spät in der Nacht kommen, dann wenn das Licht nicht mehr ausreichen würde, einen sicheren Schuss zu wagen. Es war Neumond und der Himmel  bewölkt. Hatte Schachti mir den Anblick von Rehwild versichert, um mich bei Laune zu halten? Wusste er nicht, dass das leere Feld keinen Anreiz für den anvisierten Bock darstellte?

Viel Platz für Anblick (Foto: P. Weidlich)

Flo hatte es sich neben mir auf der Bank bequem gemacht. Eingerollt lag sie auf ihrer Decke, hatte ihren Kopf an meinen Oberschenkel gepresst und mir angedeutet, ihren Kopf zu heben, wenn sie etwas hören würde. Ziemlich mutlos musterte ich durch das acht Mal vergrößernde Fernglas jede kleinste Erhebung. Einstein saß luftlinienmäßig einen Kilometer weiter weg und wartete auf einen Bock, den er einen Abend zuvor bereits gesehen hatte, der aber für einen sicheren Schuss zu weit entfernt war. Er hoffte, ihn heute Abend sehen und erlegen zu können. So gegen 21 Uhr traute sich eine Ricke aus dem nahen Wald direkt vor seinem Hochstand zu äsen, berichtete Einstein später auf der Fahrt ins Hotel. „Sie sicherte auffällig nach allen Seiten, wahrscheinlich hatte sie ihr Kitz am Waldrand abgelegt. Sie wusste wohl, dass Ricken noch Schonzeit hatten, war also vor mir sicher, ihr Kitz wäre aber eine willkommene Beute für das Schwarzwild gewesen. Vielleicht kommen ja doch noch Sauen bevor es dunkel ist, hoffte ich!“

Es war genau 21.13 Uhr. Flo setzte sich, sie gähnte, sah zu mir hoch. Ich erspähte durch das schmale Fenster einen hellbraunen Rehkörper, mitten auf dem trostlos grauen Feld, etwa 90 Meter entfernt. Der Blick durch das Fernglas bestätigte meine Überraschung: Ein Bock, ein Sechser, drei bis vier Jahre alt. Deutlich sichtbar durch das Zielfernrohr, entsichern, stechen, Schuss! Im Knall lag der Bock! Schlegelte zwei Mal, dann Ruhe.

Flo war vom Sitz gesprungen, keine Schussangst, kein Bellen, absolut ruhig.

Anruf bei Schachti.

Liegt er?“ „Ja!“ „Bleib‘ sitzen, ich komme!“

Es hielt mich nichts oben. Mit Flo kletterten wir die Leiter hinunter und warteten auf Hans-Heinrich. Keine 10 Minuten später wurde mir bewusst, wie ohnmächtig ich tatsächlich war: Früher hätte ich den erlegten Bock geholt, hätte ihn aufgebrochen und zur Kühlkammer gebracht. Und heute: Ich schämte mich, dass Hans-Heinrich sich mit dem Wildkörper abschleppte, ich untätig an der Hochsitzleiter lehnte und nur zusehen konnte. Flo beschnupperte den Bock, Hans-Heinrich überreichte mir zwei Eichenzweige, einen als „letzten Bissen“ für den Bock und einen für mich als den Erleger. „Früher hast du geholfen, heute bekommst du Hilfe. Nimm‘ es einfach an! Waidmannsheil!“

Zwei Tage später saßen Gunthild, Einstein und ich in der Aula des Gymnasiums. Ich hielt das Programm der „7.Sinfonic Rock Night 2018“ in den Händen. Mein Blick fiel auf die Mitwirkenden. Ein Name trifft mich wie ein Blitz: Lutz B. Schlagartig erinnerte ich mich an die Musiker unseres Orchesters. Ein Orchester, besetzt aus Jugendlichen meines damaligen Kinderheimes mit meiner Frau als Solo-Bläserin. Lutz war ein sehr guter Bass-Bläser auf seinem Parforcehorn, später Waldhorn. Ich hatte das Orchester initiiert mit dem Gedanken, dass Jugendliche, die ein Instrument spielen und zuverlässig einem Orchester treu bleiben, gute Ausbildungschancen haben und gleichgesinnte Freunde finden, mit denen man das Leben angenehm gestalten kann.

Genau diese Hoffnung bewahrheitete sich mit Lutz: Er lernte das Instrument, spielte lange in unserem Orchester, erfuhr Anerkennung und eine enorme Leistungssteigerung in musikalischer und beruflicher Hinsicht. Er studierte nach der Entlassung aus meinem Heim Betriebswirtschaft mit Erfolg und spielte Waldhorn in zwei großen Orchestern. Das erfuhr ich von ihm vor Jahren und von anderen ehemaligen Heimkindern. Zu Weihnachten rief er an und berichtete das Neuste über sich. Gunthild und ich treffen ihn nun während der Pause. Er strahlt, als er uns umarmt. Mein Innerstes bebt, als ich seinen Gesichtsausdruck wahrnehme, in seine Augen blicke, die voller Stolz und Dankbarkeit strahlen, während er uns zu unseren Sitzplätzen begleitet und ich ihn Einstein vorstelle.

Lutz mit seinem Waldhorn (Foto: P. Weidlich)

Einstein sieht ihm nachdenklich nach, als er zur Bühne geht, sein Waldhorn fest im Arm, und sich mit einer unmerklichen Gruß-Hand an sein Pult setzt.

Zwei Faktoren haben die Kraft, so denkt er, die das Leben eines Menschen auf den Kopf stellen, alle Pläne durchkreuzen oder mit Wermutstropfen verbittern können: Krankheit und Ideologie.

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